Donnerstag, 10. Januar 2008

Kleinstadtidylle

Es war wahrscheinlich 1988 oder 1989, als ein fremder Mann in unsere adrette, saubere Kleinstadt kam.

Dieser Mann, nennen wir ihn Werner, fiel hier sehr auf, vor allem, weil er hier neu war.
Ausserdem war er stets in schwarzes Leder gekleidet, immer alleine unterwegs und trug ständig eine schwarze Sonnenbrille. Nämlich immer, wenn er unterwegs war, egal ob Tag oder Nacht, drinnen oder draussen.
Aber auch darüber hinaus ging etwas Aussergewöhnliches von diesem Mann aus, der irgendwie über den Dingen zu stehen schien.

Auf mich und meine Freundin G. übte dieser geheimnisvolle Fremde eine ziemliche Anziehungskraft aus.
Zuerst war es wohl die Faszination des Unbekannten, dann wurde schliesslich echtes Interesse daraus. Da wir ein einer Kleinstadt lebten, spürten wir ihn immer auf, wenn wir ihn suchten, egal, ob er im gerade Kaffeehaus oder beim Bäcker war. Als wir, die wir ihn so eifrig verfolgten, ihn schliesslich kennen lernten, war die gegenseitige Sympathie auf Anhieb groß, was uns sehr freute und irgendwie sogar überaschte.

Von da an verbrachten wir viel Zeit miteinander, Werner, meine Freundin G. und ich.
Wir waren ein ungleiches Trio: ich war noch Schülerin, äußerlich zwar ein wenig "ausgeflippt", in Wirklichkeit jedoch doch brav und wohlerzogen, aber sehr neugierig auf alles in der Welt da draussen.
G., drei Jahre älter als ich, war nicht mehr ganz so naiv, ebenso neugierig und stand bereits mit beiden Beinen im Arbeitsleben.
Werner war warhscheinlich gute 10 - 15 Jahre älter als ich und, wie sich herausstellte, von Beruf Schauspieler.
Ein Schauspieler aus dem fernen Wien, der in unserer kleinen Stadt auf Erholungsurlaub war. Denn verschiedene Umstände, über die ich nie Näheres erfuhr, führten dazu, dass er in unserer Gegend für einige Wochen "auf Therapie" war. Dieses Geheimnis machte die Nähe zu ihm für uns vorerst noch spannender und irgendwie verbotener. Doch bald wich unsere Sensationslust Zuneigung und Kameradschaft und es stellte sich heraus, was für ein interessanter und sensibler Mensch hinter der schwarzen Sonnenbrille steckte.

Es war ein guter Tausch: er brachte uns ein wenig Aufregung in unser idyllisches Kleinstadtleben und im Gegenzug erlösten ihn aus seiner Einsamkeit. Denn als "Neuer" in unserer Kleinstadt Anschluss zu finden, war auch ohne Sonnenbrille sehr schwer.

Besagte Sonnenbrille wurde überhaupt ein großes Thema in unserer kleinen Stadt.
Wenn jemand von dem "Mann mit der Brille" sprach, war klar, wer gemeint war. So wurde Werner rasch kleinstadtbekannt und verschiedene Gerüchte, die im Laufe der Zeit immer dramatischer wurden, begannen ihn zu umranken.
Fast jedesmal, wenn Werner ein Lokal betrat, gab es unangenehme Kommentare betreffend ihn und seine Brille.

Als wir an einem Samstag in die Disco gingen (Werner stand auf die Songs von Tina Turner), wurde er auf der Tanzfläche wieder einmal angepöbelt. Diesmal waren es zwei junge Männer, denen Werners Auftreten offenbar einfach zu viel war.

Ich habe das Bild noch genau vor mir: die leere Tanzfläche, deren flimmernder Boden und darauf nur drei Personen, Werner und diese beiden Burschen. Weil Werner seine Sonnenbrille auf deren Geheiß nicht abnehmen wollte, wurde sie ihm vom Kopf gerissen und schon flogen die Fäuste. Zwei gegen einen.
G. und ich versuchten erfolglos, die drei Raufenden zu trennen, die anderen Gäste dieser fast leeren Disco sahen interessiert zu.

Erst auf mein Drängen hin rief jemand vom Personal die Polizei. (Damals gab es noch keine Handys.)
Während die drei Kämpfenden sich schon auf dem Boden wälzten und bereits Blut floss, kam auch der Discjockey herbei getstürzt. Endlich greift jemand ein, dachte ich mir erleichtert und sah, wie auch der vermeintliche Helfer sofort auf Werner einschlug. Also drei gegen einen.

Irgendwann kam schließlich die Polizei, die Schlägerei wurde beendet, es kam zur Anzeige.
G. und ich erhielten dann Vorladungen als Zeuginnen, jedoch wurden wir nie zu einer Aussage oder Verhandlung eingeladen. Als wir deshalb nachfragten, wurden wir abgewiesen.
Wie die Angelegenheit dann schliesslich ausging, habe ich nie erfahren - die Polizei gab keine Informationen raus.

Werners Kleinstadt-Therapie war offenbar zu Ende, G. und ich haben ihn nie mehr gesehen.
Wir hatten keine Telefonnummer von ihm, keine Adresse und unter seinem Familiennamen konnten wir ihn nicht finden.

Gestern habe ich nach langer Zeit wieder an ihn gedacht.
Gerne würde ich wissen, wie es ihm geht ob er seine schwarz Brille weiterhin trägt.

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