Dienstag, 8. Januar 2013

Wieder der Tod.

Als zehnjährige erkrankte meine Schulkollegin an Krebs.
Sie hatte einen schwarzen Fleck am Arm und es war unglaublich, dass es ausgerechnet sie traf, weil sie die Klügste und Bravste der Klasse war. Damals dachte ich, dass meine Mutter lieber sie als Kind hätte als mich, und beneidete sie.

Als wir vierzehn waren, verstarb das Mädchen.
Sie war meine Schulfreundin, sie war beliebt, die ganze kleine Stadt war betroffen. Jetzt ist sie im Himmel, sagte meine Mutter.

Als achzehnjährige hörte ich von einem Schüler aus unserer Stadt, der sich vor den Zug warf. Wir alle waren betroffen, wie kann ein so junger Mann sein Leben wegwerfen. Wie groß muss da die Verzweiflung sein. Da ich ihn selbst nicht kannte, wusste ich nicht, wie ich fühlen sollte und fühlte so, wie es die anderen erwarteten.

Mit siebenundzwanzig habe ich zum ersten Mal jemanden in den Tod begleitet. Sie war die Großmutter meines damaligen Freundes, eine Dame aus einer Welt vor unserer und sehr einsam.
Immer wieder habe ich sie nach der Arbeit besucht, bin an ihrem Bett gesessen und hab ihr Geschichten erzählt. Ihre Freude darüber hat ziemliche Löcher in meinem Herzen gefüllt.
Ihr Tod schien keinerlei Lücken hinterlassen zu haben, das hat mich damals mehr betroffen als ihr Tod selbst.

Als ich sechsundreissig war, erkrankte meine Mutter an Krebs.
Mit der Diagnose war auch noch eine ungefähre Restlebensdauer festgelegt. Wir hatten nicht das beste Verhältnis und ich war überascht davon, was diese Zeit des Abschiedes für mich alles bereit hielt. Wie wichtig das für mich war und wie sehr ich meine Mutter endlich besser sehen konnte. Und ein Stück auch mich selbst.
Als sie schliesslich ging, war ich sehr traurig, aber es war in Ordung. Ich war irgenwie auch versöhnt.

Vor dreieinhalb Jahren haben bestimmte Umstände dazu geführt, dass mein nicht geborenes Kind gestorben ist. Dieses Ereignis hat mich in Loch gestürzt, in ein bodenloses, unendliches Loch, das so einnehmend war, dass ich fast nicht weiterleben konnte.
Vielleicht habe ich seither gelernt, dass es alles geben kann - aus allen Gründen - auch das, was Du Dir jetzt gar nicht vorstellen kannst. Und an manchen Tagen halte ich genau diesen Gedanken kaum aus. Und ich lerne langsam, damit einfach weiterzuleben.

Vor drei Monaten ist mein Onkel gestorben.
Er war mir und unserer Familie sehr nahe. Er war der Bruder meines Vaters, war neunzig Jahre alt und es war mit seinem baldigen Tod zu rechnen. Als es dann soweit war, hat irgendwas ganz Altes in mir weh getan - wie auch die vielen verpassten Chancen und der spürbare Verlust des eigenen, schwindenden Lebens.
Seine Frau ist jetzt nach über 60 Ehejahren Witwe und glaubt nicht, dass er wirklich tot ist.


Und heute abend habe ich erfahren, dass mein Vater schon sehr hohe Tumorwerte aufweisst. Krebs hat er schon seit einiger Zeit, aber er möchte nicht, dass meine Geschwister und ich das wissen. Er lehnt - nach dem Marthyrium meiner Mutter - auch jede Behandlung ab.
In unserer Familie steht also ein weiterer Abschied bevor - und wir drüfen uns das nicht anmerken lassen. Keine Sorgen und Wünsche äussern. Keine Fragen stellen, weil mein Vater uns vor seinem Tod schützen möchte.

Mein Vater, der mir schifahren beigebracht hat.
Mein Vater, der einmal so die Tür zuschlug, dass die Wand meines Zimmers einen Riss im Putz bekam.
Mein Vater, der immer wollte, dass ich mich für Politik interessiere.
Mein Vater, der im Krieg Flüchtlinge versteckt hat.
Mein Vater, der immer ein schlechtes Gewissen seinem Bruder gegenüber hatte, weil dieser im Krieg eingezogen wurde.
Mein Vater, der sich nichts mehr wünscht, als dass meine Geschwister und ich nicht streiten.
Mein geliebter Vater.

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